Theo Goethe - 5. Juli

„Das Glück ist heute gut gelaunt!“

Mit Dr. Theo bei Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich von Schiller und Hermann Hesse.

Unser Titel hätte auch so lauten können: Aufstand gegen die Ordnung! Unsere Literaten wollten die Autoritäten besiegen. Doch wir ließen uns nicht auf Finsteres ein. Wir setzten auf Glück und gute Laune. Egal, wie aufsässig unsere Gastgeber waren.

In Umwandlung des Gedankens, der wohl die Schönheit relativiert, sage ich: Das Wesentliche liegt im Auge des Schreibers. So stehe ich weniger unter Druck und meine Mühe wird gering sein, die Touren, Tage, Bilder, Daten  lückenlos in Reih und Glied zu bringen. Mein Interesse und Vermögen liegt nicht darin, eine kleine Geschichte im Sinne von Geschichte zu verfassen. Bei einer Rede bleiben oft weniger die Fakten hängen als die Geschichten zu den Fakten. Diesen Umweg erspare ich meinen Lesern und tummle mich gleich auf Nebenschauplätzen. So werden das Erlebte, unsere Gefühle, unser Miteinander, unsere Begeisterung, das Außergewöhnliche im Vordergrund stehen. 

 

Aus aller Herren Straßen kamen die Freunde zum Hinterausgang des Bahnhofs. Völlig unpassend: Männer und Frauen wie wir treffen sich vor dem Bahnhof! Doch so bekamen wir schon in der ersten Minute zu spüren, wer die nächsten vier Tage das Sagen haben wird. Dr. Theo, Mensch und Lehrer, beides lässt sich nicht verleugnen. Doch es dauerte eine gewisse Zeit, bis der Mensch sich zeigte. Mit dem Lehrer mussten wir leider beginnen. Mit einem finsteren Gesicht, da er noch nicht so recht an unsere Disziplin glaubte. Doch da wir ihm nicht nur gerne folgen, sondern ihn auch mögen, war das kein Thema.

22 Gäste verteilten sich auf 50 Plätze. Dr. Theo führte uns von vorn. Wie ein Imam mit dem Rücken zum Volk. Der Imam will nicht sehen, wenn Alte und Gebrechliche sich nicht mehr verbeugen können oder die Moschee verlassen. Eine hehre Absicht. Doch die hatte Theo nicht. Weder war einer von uns alt und gebrechlich noch hätten wir abhauen können.  Wir waren in Theos Bus und Hand. Kaum hatten wir Zeit, den Charme Krefelder  Gewerbegebiete zu ergründen, verteilte Barbara, fortan Theos Sekretärin, schon die erste Arbeitsunterlage: Wetzlar: Goethe und Werther. Theo holte weit aus. Er sprach über 2000 Jahre deutsche Geschichte, über Klostergründungen, über die Regeln des Heiligen Benedikt, über die  damalige „deutsche Globalisierung“, über die Kaiserkrone, die das Volk so gut zusammenhielt. Und über seine Freude, dass wir heute noch den christlichen Gott in unserer Verfassung haben. So begannen wir mit einem Grund- und Leistungskurs als Kompaktkurs. Wir verstanden alles, behielten aber nur Bruchstücke. Noch konnten wir uns nicht gut konzentrieren, weil es sehr früh und die Disziplin hinter Theos Rücken noch nicht durchgängig gut war. Wir konnten noch nicht kommentarfrei zuhören. Doch bald setzte sich Theo durch, gottlob als Mensch. Wir waren seinem Lehrer-Auftritt milde begegnet. Das bekehrte ihn. Und endlich menschelte es wieder bei ihm, war er wieder unser Freund und Theo. Aufmerksamkeit und Neugierde wurden unsere Lieblinge. Auf solchen Reisen gehört Disziplin einfach dazu. Hier lohnt es sich, neugierig zu sein.  

Erst weit hinter Köln kam Theo endlich geistig in Wetzlar an. Seine Worte und eine bebilderte Unterlage machten uns mit dem ersten Ziel bekannt.

Bei strömendem Regen kamen wir in Wetzlar an. In der Leica-Stadt, wo es, wie im Prospekt steht, alles gibt: Alles, was Recht ist. Alles, was Freude macht. Alles, was Stil hat. Und in  der Stadt, in der einst Werther so gelitten hatte. Oder besser der Mann, der sich dieses Pseudonym gegeben hatte: Johann Wolfgang von Goethe. Im Jahre 1772, als Dreiundzwanzigjähriger, hielt sich Goethe vier Monate als Rechtspraktikant am Reichskammergericht in Wetzlar auf. Doch mit dem Recht hatte er wenig im Sinn. Nur zweimal soll er sich im Kammergericht gezeigt haben. Er hatte eine komfortable Wohnung im Römischen Kaiser am Kornmarkt, liebte die schönen Dinge des Lebens, die Gasthäuser, die einfachen Menschen, das Gespräch und eben die Frauen. „Ein merkwürdiger Mensch, bedeutend wie bemerkenswert. Er sprach viel und trank nicht wenig,“ stellte ein Wetzlarer Bürger fest.

Wir zäumten das Pferd von hinten auf und begannen mit dem Besuch bei Karl-Wilhelm Jerusalem, dem armen Zeitgenossen Goethes, der sich in die Frau seines Chefs verliebte. Die Liebe scheint recht einseitig gewesen zu sein, denn die Frau erzählte es ihrem Herrn Gemahl, dieser feuerte jenen, worauf der arme Karl-Wilhelm bei Johann Christian Kestner zwei Pistolen lieh und sich das Leben nahm. Doch warum uns diese Geschichte interessiert, kommt später.

Denn unsere Hauptgastgeberin war Charlotte Buff, damals erst neunzehn Jahre alt, uns allen als Lotte bekannt, später dank Thomas Mann als Lotte von Weimar. Die Franzosen nannten sie liebevoll Lolotte. Sie kam aus gutem Hause und war mit dem Waffenverleiher und ehrbaren Kaufmann Kestner verlobt. Im Sommer 1772 fuhr Kestner mit seiner Verlobten mit der Kutsche zu einem Ball nach Volpertshausen. Ebenso Goethe, wie immer auffällig gekleidet, diesmal in einen apricotfarbenen Anzug. Die Farbe des Anzugs ist nicht so wichtig, aber sie zeigt, dass unser großer Geist nicht nur Mut zu geistigen, sondern auch zu äußerlichen Extravaganzen hatte. Im Ballsaal lernten sie sich kennen und mögen. Und lieben? Viele Besuche und Gespräche folgten. Doch wie es kommen musste - Goethe brachte die Verlobten nicht auseinander. Und fuhr ohne Abschied zurück nach Frankfurt.

Wir besuchten das Lottehaus, Lottes Elternhaus, wo sie mit 11 Geschwistern aufwuchs. Oder besser diese mit ihr. Früh verstarb ihre Mutter, deren Rolle  sie als zweites Kind dann übernahm. Später bekam sie selbst sechs Kinder. Zuerst drei, dann drei Jahre Pause und dann wieder drei. Die Pause begann 1774, im Erscheinungsjahr des Werther. Lotte war gerade 29 Jahre geworden. Ihr Gemahl war wohl sehr erregt über das, was er lesen musste. Drei Jahre gab er dem Groll Zeit, sich zu legen. Wir sahen Möbel aus der Lotte-Zeit, ihre weltbekannten Kleider, die Lottekleider. Wir sahen das Gemälde der Brot schneidenden Lotte, das eine der Schlüsselszenen aus dem „Werther“ zeigt. Lotte war nicht hübsch, aber wohl sehr charmant und gebildet. Neider hätten einmal von sich gegeben: „Für Lotte würde sich kein Werther erschießen!“ Im Jahre 2003 wurde hier ihr 250. Geburtstag gefeiert.

Das erfuhren wir in Lottes Küche: „Einen Zahn zulegen!“ bedeutet, den an einer Kette hängenden Topf um einen Zahn weiter nach unten hängen. „Mehrere Eisen im Feuer“ hat diesen Hintergrund: Eisen waren früher Bratzangen, von denen die Hausfrau mehrere hatte. Und tat sie drei in den Ofen, dann hatte sie eben mehrere Eisen im Feuer.

Doch was wäre diese Geschichte heute wert, wenn nicht Goethe mitgespielt hätte. Lotte und den armen Jerusalem würde niemand mehr kennen. Noch nicht ganz zu Hause, begann Goethe den Werther zu schreiben. Er war der Werther und Charlotte die Lotte. Mitten in seine Arbeit hinein platzte die Nachricht vom Selbstmord des Herrn Jerusalem. Das kam ihm gerade zupass. Er wollte nun als Werther auch so enden. Und so ließ er sich im Werther sterben. Ein Selbstmord passte allerdings nicht in die damalige Zeit. So wurde der Werther, als er 1774 erschien, zunächst verboten. Später aber dann der bekannte Welterfolg.

In Wetzlar gibt es einen spektakulären Dom, obwohl die Kirche Marienstiftskirche heißt und es hier seltsamerweise nie einen Bischof gab. Doch das schmälerte unseren Eindruck nicht. Ein Stilfestival, zwei Kirchen in einer, fünf Stilrichtungen erzählen von romanischen, gotischen, neugotischen und anderen Zeiten. Ein Dom ohne Kirchturmspitze: „Den Jungens ist die Kohle ausgegangen“, hörten wir von unserer Reiseführerin Anne Uebach. Sie liebt ihre Stadt und - wie kann es anders sein – übertrug diese Liebe auf uns.

Tief beeindruckt hat uns die Kirche als ökumenische Kirche. Beide Konfessionen feiern hier Gottesdienst oder Messe. An verschiedenen Altären - durch das ewige Licht leicht zuzuordnen - und zu unterschiedlichen Zeiten oder manchmal auch gemeinsam. Sonntags beginnen die Katholiken um 9:30 Uhr, die Protestanten folgen um 11:00 Uhr. Daraus folgerten wir: Katholiken brauchen weniger Schlaf. Sehr praktisch: Die Rückenlehnen der Kirchenbänke werden jeweils in Altarrichtung umgeklappt. Witzig oder gar ein bisschen peinlich empfanden wir die Trennung der Stromeinschaltung nach katholisch und evangelisch. Hier könnte man doch sicherlich halbe-halbe machen. 

Wir waren ein feiner Kreis. Obwohl gute Ausbildung noch lange nicht für Edles spricht: Drei Professoren, sechs Promovierte und reizende, tüchtige normale Menschen. Eine bunte Mischung aus Ruhe und Unruhe, Geben und Nehmen, Witz und Ernst, laut und leise, Disziplin und Aufmerksamkeit, Bildung und Interesse, Rücksicht und Höflichkeit, Reden und Zuhören. Theo  war unser Vater, wir glaubten ihm alles: Lieber mit dem Papst irren, als ohne  ihn vielleicht das Richtige denken. Theo ist Lehrer, das durften wir nie vergessen.

Schlosshotel Monrepos, am Rande von Ludwigsburg in einem herrlichen Park gelegen, war unser nächstes Ziel. Wenige Stunden später saßen wir in fröhlicher Runde. Theo hatte uns eingeladen bzw. es ermöglicht, dass sein Budget eine solch festliche Einladung  zuließ. Während der ganzen Reise wohnten wir nicht im Schloss, sondern im Hotel neben dem Schloss.

„Das Glück ist heute gut gelaunt!“ Dieser hübsche Gedanke unseres neuen Gastgebers Johann Christoph Friedrich Schiller steht an der Wand seines Geburtshauses im Bergstädtchen Marbach geschrieben und passte so gut zu uns. Wir hatten Glück, dabei zu sein, und ließen uns das spüren. Erst unser aller ständige Begleiter Zufall und Fügung machten die Geburt des berühmten Sohnes in Marbach am Necker möglich. Sein Vater war angereist, lernte im Gasthaus zum Goldenen Löwen die Wirtstochter kennen, blieb in Marbach hängen und heiratete sie. Später zogen sie nach Ludwigsburg. Der Knabe Friedrich entwickelte sich prächtig und kam im jugendlichen Alter von acht Jahren dank brillanter Fähigkeiten auf die Lateinschule. Und später auf die berühmte und strenge Karlsschule. Wichtigste Mitbringsel: ein Unterhemd und 15 Stück unterschiedliche lateinische Bücher. Schnell stand er auf gegen jegliche Ordnung, die Gedanken seien frei. Der absolutistische Hof gab ihm genügend Anlass zur Rebellion. Die „Räuber“ und später „Kabale und Liebe“ waren seine ersten Antworten. Die „Glocke“ bekommt den Rang der zehn Gebote. Als es zu viel mit dem Rebellen wurde, hat der Hof ihm höflich und höfisch nahegebracht: „Lassen wir Schiller schnell abreisen.“ Jetzt verloren sich unserer Spuren zu Schiller. Nur im Ludwigsburger Hoftheater kamen wir noch einmal kurz auf ihn zu sprechen.  

Die Verhältnisse, Erde und Himmel wurden uns im schillerschen Sinne immer noch nicht zuwider. Wir waren voller Tatendrang, blieben in Marbach  und stiegen die Schillerhöhe hinauf. Dort oben steht das vor einem Jahr eröffnete LiMo, das Literaturmuseum der Moderne. Architekt David Chipperfield hat sich hier klassizistisch ausgelassen. Wir waren begeistert, in der FAZ  war allerdings von Geschmäckle die Rede, vermutlich eine Anbiederung an die Leser der Süddeutschen Zeitung. Wir standen vor dem Museum unter einer Linde und neben Friedrich Schiller im Kreis. Wie stets vor großen Ereignissen hatte Dr. Theo viel zu sagen, bevor er uns Banausen ins Museum lassen konnte. Ein Blick auf unsere Körper und Gesichter ließ zwar kaum erkennen, dass hier Erhellendes gepredigt wurde. Der nicht eingeweihte Betrachter hätte auf Schreckliches kommen können: Finstere Mienen, Mundwinkel gen Süden, Schultern nach vorn, Hand unterm Kinn.  Er konnte ja nicht wissen, dass Literatur etwas schrecklich Ernstes ist.

Warum liegt das Museum In Marbach? Dort wurde nach dem Krieg das Deutsche Literaturarchiv gegründet. So wird es dem LiMo nie an Nachschub fehlen. Wir wurden sachkundig von Glasvitrine zu Glasvitrine geführt. Manche von uns ließen sich elektronisch führen. Das LiMo ist für Kenner wie Nichtkenner eine Schatzkiste.

Der spannende Vormittag lag hinter uns. Jetzt galt es, in Ludwigsburg sich weniger den Dichterfürsten denn den verschwendungssüchtigen weltlichen Fürsten zu widmen. Auf dem Marktplatz bereiteten wir uns geistig wie körperlich mit Theos Leaflets, Salat und Nudeln auf einen bombastischen Besuchsnachmittag im „schwäbischen Versailles“ vor: 18 Gebäude des Ludwigsburger Schlosses mit ihren 452 Räumen, Sälen und Zimmern, der Schlosskirche, dem Spiel- und Jagdpavillon und dem Ordensbau sollten wir sehen müssen. Unsere traurigen Blicke und Theos großes Herz ermöglichten eine Verkürzung des Programms. Das war auch gut so. Schon das Nichtgestrichene war ausreichend und anstrengend genug. Warum eigentlich? Sind  Barock, Rokoko oder Empire ermüdender für den Betrachter? Tun wir uns mit der Romanik, Gotik oder Renaissance leichter? Also mit Schlichtheit, dem Streben zum Himmel oder Geradlinigkeit. Passen gewaltige Formen, Schnörkel, Gold, Silber, Gobelins, Spiegel und riesige Kerzenleuchter nicht so recht in unsere Zeit und Köpfe? Das, was wir sahen, war so schön wie hässlich. Wertvoll bombastisch. Milde hätten wir auch sagen können: Schöner Wohnen im 18. Jahrhundert. Das nebenbei: Wir erfuhren, dass 15% der Haushaltskosten durch Kerzen „verbrannt“ wurden. Heute liegen wir mit unseren Glühlampen und einigen Kerzen dazu nicht über 2%. Martin Schöllkopf, unser Hobby-Führer, liebt sein Schloss, dessen Einrichtung, dessen Geschichte und Monarchen. Hier herrschte Herzog und Schloss-Erbauer Eberhard Ludwig  (1676 bis 1733), immerhin wurde  Ludwigsburg nach ihm benannt. König Friedrich I. zog später mit 200 kg Eigenwicht und 2,10 m Körpergröße von Stuttgart nach Ludwigsburg. Napoleon, der ihn hier besuchte, soll gesagt haben: Ich wusste gar nicht, wie weit sich die Haut dehnen kann. Über ihn hörten wir diese Geschichte: Der König ritt allein übers Land und begegnete zwei Bauern mit einem Esel. „Wohin des Wegs, Ihr drei?“, fragte er von oben herab. „Am vierten vorbei, Euer Majestät“, antwortet der Bauer recht schlagfertig. Ohne Folgen, wie wir hörten.

Über uns lag während der ganzen Reise ein behütendes Wir-Gefühl: Ein Club, gleiche Gesinnung, gleiche Interessen. Wer prägte dieses Wir-Gefühl? Recht unterschiedliche Menschen, Freunde, Zeitgenossen, Lions. So wie Barbara, unsere pfiffige, flinke, mädchenhafte Sekretärin mit ihrem konservativen und liebevoll menschelnden Fred. Neue kamen auch unter das Dach des Wir-Gefühls: Lydia und Elmar. Als Paar und jeweils Solitär ein Riesengewinn für uns. Eloquente Westfalen, das allein ist schon eine Aussage wert. Sie, schwarzgelockt, mit einem forschen, selbstbewussten Gang und einer erfrischenden, mitreißenden Lache. In ihm, fein, höflich, eher zurückhaltend, steckt mehr als man auf Anhieb sieht. Hanne und Wolfgang mischten sich liebenswürdig und plaudernd unter uns. Und der Klaus, Heinz-Erhardt-Freund, belebte unsere Runde stets mit einem Scherz: „Ich heiße Klaus und Sie herzlich willkommen!“ Ilka hört seine Witze gerne. Man sieht ihr aber an, dass sie diese schon einmal gehört hat. Über uns ragte frisch und blühend Wilhelm, der Dressman, mit seiner lieben Frau Maria. Beide stets wie aus dem Ei gepellt. Und neben uns ragte Wolfgang, immer zu einem Scherz bereit, mit Ilse, die mit ihren künstlerischen Augen wohl mehr sah als wir alle zusammen. Die hübsche Angelika mit ihrem ruhigen, aber blitzgescheiten Wolfgang gehörten genauso gerne dazu wie Edith und Ditmar, die wieder einmal bewiesen, was Treue zu unserem Club und Theo bedeutet. Immer lächelnd und für alle und alles „geöffnet“, erfreuten uns Sabine und Franz-Josef. Und natürlich Theo, der hier schon genug gewürdigt wurde, mit Dorle, seiner fürsorglichen, tollen Frau und Beschützerin. Brigitte und Wilfried gehörten auch dazu. Gerne würde ich hier auch die erwähnen, die nicht dabei waren. Vielleicht fördert das die Lust, das nächste Mal mitzukommen.

Unser Harmonie-Club zog am nächsten Morgen in Maulbronn ein - ein himmlischer Ort zwischen Odenwald und Schwarzwald, an der Nagold gelegen. Hier hatte und hat der liebe Gott seine Hände im Spiel. In diesem einsamen Tal, weit weg von allem Weltlichen, gründeten Zisterzienser, ein von Bernhard von Clairvaux nach den Regeln des Heiligen Benedikt gegründeter Orden, ein Kloster. 1147 wurde mit dem Bau einer imponierenden  Anlage begonnen. 1178 wurde die Klosterkirche der Gottesmutter geweiht. Wir besichtigten die Kirche und die wunderbar renovierten Klostergebäude. Wir wurden gut geführt und sahen eine Kirche, die ähnlich spannend wie im  Dom zu Wetzlar ein großes Stil-Durcheinander von Romanik und und Gotik  bot. Selten wurde das gemeine Volk von  den frommen Mönchen und Priestern so getrennt. Diese saßen in gigantischem Chorgestühl. In Stühlen mit hölzernen Scheuklappen, so dass Frater-Nachbar nicht gesehen werden konnte. Wir erfuhren leider nicht, ob eine solch strenge, vermeintlich das konzentrierte Gebet fördernde Bauweise nicht auch den heimlichen Schlaf begünstigte. „Wer schläft, der sündigt nicht.“ Im Kapitelsaal wurden Kapitel vorgelesen, Kapitel aus den benediktinischen Regeln oder aus der Heiligen Schrift. Im Refektorium aus dem 13. Jahrhundert wurde gegessen, sicherlich nicht gespeist. Gegessen ohne zu reden. Texte aus der Bibel wurden dabei vorgelesen. Körper und Geist kamen beide zu ihrem Recht. Jede Mahlzeit sollte eine Wiederholung des Abendmahls sein. Wir besichtigten auch Parlatorien, Räume, in denen zu bestimmten Zeiten gesprochen werden durfte. Wir konnten uns so richtig vorstellen, wie die frommen Herren mit ihren Skapulieren und Tonsuren durch die stillen Gänge schritten. Die Tonsur symbolisiert die Dornenkrone. Welch schrecklicher Gedanke! Welch aufopferndes Leben auf dem Weg zur Vollkommenheit! Besonders faszinierte uns ein riesiges Steinkreuz, Kreuz und Corpus sind aus einem Stück gehauen. Nur an zwei Stellen berührt der Köper das Kreuz. Unglaublich 

Doch lange konnte das Kloster nicht überdauern. Im 16. Jahrhundert geriet es in die Hände der württembergischen Herzöge und mit Einführung der Reformation wurde das Kloster eine evangelische Klosterschule. Heute leben und lernen hier in einer Mittelschule für Begabte immer noch tüchtige Jungs und Mädel. Sicherlich mit großem Stolz. Vielleicht sogar verbunden mit dem Wunsch, ebenso berühmt zu werden wie ihre Schülerkollegen aus alten Tagen, wie der Astronom Johannes Kepler, später der Dichter Friedrich Hölderlin. Und noch später Hermann Hesse. Der es hier allerdings mit sich und seiner Obrigkeit sehr schwer hatte, wie er in „Unterm Rad“ Hans Giebenrath erzählen lässt. Dass er ausriss, sich eine Pistole besorgte und seinem Leben ein Ende machen wollte, ist wohl auch nicht nachahmenswert.

Bevor es nun weiterging nach Calw, Hesses Geburtsstadt, aßen wir im Schatten der Linden des paradiesischen Innenhofs von Maulbronn Maultaschen, Württembergs köstliches Nationalgericht. Auf schwäbisch allerdings Herrgotts-B’scheißerle genannt. Warum das? Auf dem bescheidenen Speiseplan der Mönche stand selten ein Fleischgericht. So schmuggelten die brüderlichen Köche Fleisch in die sonst nur mit Gemüse gefüllten Teigtaschen. Der liebe Gott konnte nichts sehen. Die Obrigkeit des Klosters wollte nichts sehen. So wurden auf sehr menschliche Art die Regeln des Heiligen Benedikt ausgehebelt. Aber nicht nur mit den Maultaschen gelang den frommen Herren die Umgehung eines Gebotes. So galt für Reisende die Regel: „Nehmt immer Wein mit auf Reisen, wer weiß, ob das Wasser vielleicht verseucht ist.“

Im Hermann-Hesse-Haus in Calw spürten wir Heimat. Wir hatten ihn alle gelesen. Er hätte unser Großvater sein können. Streng wurde Hermann erzogen. Sein Vater Johannes war Missionar,  Pietist: „Kinder kommen immer schlecht auf die Welt, sie sind mit der Erbsünde belastet.“ Schrecklich, dieser Gedanke, aber wohl noch schrecklicher, wenn man dies wirklich glaubt und erst einmal seinen Kindern den Teufel auszutreiben hat. Als Katholik beruhigt es mich sehr, dass mit der Reformation nicht alle Übel auf der katholischen Seite geblieben sind. Und die Protestanten nicht nur das Edle des Christentums für sich beanspruchen können. In vielen Briefen an seinen Vater bringt Hesse zum Ausdruck, wie wenig er mit ihm anfangen kann. 50 Werke hat Hesse mit einer heutigen Gesamtauflage von 80 Millionen Stück verfasst, 35.000 Briefe soll er geschrieben haben. Ein Päckchen davon konnten wir im LiMo sehen. Es darf allerdings erst im Jahre 2017 geöffnet werden. So verfügten die Erben. Vielleicht erwartet uns in zehn Jahren ein neues Hessebild. Aber das alte war uns schon Faszination genug. Die Ausstellung war spannend. Von Andy Warhols Bild „Happy Zigarillo“ über Hunderte von Schriften und Brillen bis zur gottlob nicht benutzten Pistole bekamen wir viel zu sehen und zu lesen.

1938 wurde Hesse Ehrenbürger von Calw, 1942 bekam er den Nobelpreis, 1964 wurde das Calwer Gymnasium in Hesse-Gymnasium umbenannt. Auch wenn er in seiner Jugend oft als „Nestbeschmutzer“ galt – er habe dem lieben Gott die Tage gestohlen - liebte er seine Stadt: "Zwischen Bremen und Neapel, zwischen Wien und Singapur habe ich manche hübsche Stadt gesehen, Städte am Meer und Städte hoch auf Bergen, und aus manchem Brunnen habe ich als Pilger einen Trunk getan, aus dem mir später das süße Gift des Heimwehs wurde. Die schönste Stadt von allen aber, die ich kenne, ist Calw an der Nagold, ein kleines altes schwäbisches Schwarzwaldstädtchen. Der Domplatz in Florenz ist nichts dagegen.“ Wir verbrachten noch ein paar Minuten auf der Nikolai-Brücke, an dem Ort, den Hesse in all seiner Verzweiflung oft aufsuchte. Dann ging es zurück ins Hotel Monrepos.

Über den Hohenasperg ging es dann nach Hause. Keiner von uns wusste, was es mit diesem so schön gelegenen Hügel in der Nähe Ludwigsburgs auf sich hat. Der schöne Hügel soll übrigens der höchste Berg Württembergs sein. Lag er nur so günstig? Was sollen wir hier? Doch Theo klärte uns auf. Wie heute noch, so war auf diesem Berg seit alters her ein schwer einzunehmendes Gefängnis. Dort saß Christian Friedrich Daniel Schubart, ein zu Schillers Zeiten bekannter Dichter, zehn Jahre ein. Wohl unter schwersten Bedingungen. Die Herren Regenten fanden ihn zu aufmüpfig. Seitdem kursiert unter den Leuten der Spruch: Auf den Hohenasperg kommst du schnell hinauf, aber du brauchst 10 Jahre, um herunterzukommen. Franz Schubert hat Schubart ein wenig berühmter gemacht. Er vertonte Schubarts Gedicht „Die Forelle“. Friedrich Schiller besuchte damals dort seinen streitbaren Kollegen. Dieser Besuch soll ihm Anregungen zu seinen „Räubern“ gebracht haben. Auf dem Hohenasperg ging es glücklicherweise nicht nur um den berühmten Dichter, sondern auch um Franz-Josef. Er hatte Geburtstag und spendierte Eisgekühltes und Salziges. Das tat uns gut, zumal wir nun eine lange Busfahrt vor uns hatten. Aber was soll’s. Da wir uns lieben, ist eine Busfahrt wie ein Segeltörn. Wir sind zusammen. Das ist das Wichtigste. Dr. Theo hatte immer noch etwas zu erzählen, Franz-Josef dankte ihm in unser aller Namen.

Ja, das war’s! Eine viel zu lange Geschichte über so wenige Tage. Denkt bitte an meine dichterische Freiheit, wenn ihr einen Fehler entdeckt oder euch eine  Formulierung nicht gefällt. Entdeckt ihr eine Lücke, dann fragt bitte unseren lieben Theo, unseren großartigen Entwicklungshelfer, unseren Leuchtturm. Nicht als Lückenfüller, sondern als den Meister des Ganzen.

Dank seines großen Herzens wird er immer bereit sein, diesen „After Sale Service“ zu leisten. Dieser Bericht ist ein Geschenk an Theo. Eine Kopie steht den Mitreisenden zu. Aber auch die Daheimgebliebenen sollen eine Chance bekommen, unser Niveau mit uns zu teilen. Verzweifelt nicht, wenn das schwer wird und packt es an wie Goethe: „Was immer Du tun kannst oder träumst, es tun zu können, fang damit an! Mut hat Genie, Kraft und Zauber in sich.“ Lassen wir auch noch Schiller zu Wort kommen: „All unser Wissen ist ein Darlehn der Welt und der Vorwelt. Der tätige Mensch trägt es an die Mitwelt und Nachwelt ab; der untätige stirbt mit einer unbezahlten Schuld. Jeder, der etwas Gutes wirkt, hat für die Ewigkeit gearbeitet.“

WR 07.06.07